Trost ist nicht Hilfe-aber Erlebnis
Untröstlichkeit empfinden und Trost empfangen. Das klingt wie ein Widerspruch in sich, nach einem „entweder oder“. Aber im Verlauf meiner Trauer um meinen Sohn Jens – er starb im Sommer 2013 mit 26 Jahren an den Folgen eines Gehirntumors – kam ich immer mehr dahinter, dass es ein „sowohl als auch“ ist: Beides begleitet mich durch mein Trauerleben, gehört mir zu. Weder kann vielfach erfahrener Trost ein für allemal meine Untröstlichkeit aufheben, noch verhindert letztere, dass ich immer und immer wieder Trost empfange und spüre.
Was zunächst eher ein Empfinden als ein klarer Gedanke war, verdeutliche ich mir sinnbildhaft am Beispiel einer chronischen, körperlichen Schmerz verursachenden Krankheit: Die Krankheitsursache lässt sich nicht beseitigen. Für diese Unheilbarkeit steht die Untröstlichkeit. Aber der Schmerz als Krankheitssymptom kann, etwa durch Medikamente, eingedämmt, tragbar gemacht werden. Für die wirksamen Schmerzmittel stehen meine Trostquellen.
Das Leiden muss ich ertragen, wohl bis an mein Lebensende. Aber i c h trage e s. Ich spüre diese Last, besonders intensiv in an sich guten und schönen Momenten des Lebens. Aber das Leid beherrscht und „überschwemmt“ mich nicht – dafür sorgt fortwährender Trost.
Dies ist ein Empfinden, welches der Soziologe Georg Simmel vor 100 Jahren in treffliche Worte gekleidet hat: „Trost ist etwas anderes als Hilfe… der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele.“
Der direkteste Weg, mir zusätzlich zum Leid über den Verlust meines Sohnes (als ob das nicht reichen würde) auch noch dieses „Leiden am Leiden“ aufzuladen, wäre gewesen, mich selbstquälerisch mit der fruchtlosen „Warum-Frage“ abzuplagen: „Warum gerade er, warum gerade wir?“ Mit ihr hätte ich mir unmittelbar das zusätzliche Leiden daran aufgebürdet, dass mir beschieden ist, Leid zu tragen. Ich hatte von Anbeginn einen Widerwillen gegen diese Frage und sie für mich mit der Gegenfrage erledigt: „Warum denn jemand anderes?“
Mein zuvor nur implizites „Wissen“, dass Leid essentieller Bestandteil des Lebens ist, wurde mir durch den Tod von Jens transparent und nachhaltig. Demgemäß wäre „Leiden am Leiden“ Leiden am Leben selbst. Das kann man wollen und in früheren unbekümmerteren Phasen meines Lebens wollte ich das zumindest ein wenig – vermutlich um mir besondere Empfindungsfähigkeit attestieren zu können. Aber jetzt, im gehobenen Alter will ich das nicht mehr und schon gar nicht zusätzlich zu meiner Trauer um Jens.
Trauerleid ist aber, so verstehe ich das heute, auch essentieller Bestandteil g e l u n g e n e n Lebens. Denn wie unendlich traurig ist es doch, wenn vergehendes menschliches Leben unbetrauert bleibt.
Welches nun sind meine Quellen, aus denen ich Trost schöpfe? Zunächst erwähne ich eine paradoxe, aber reale Quelle: Sogar meine Untröstlichkeit selbst enthält ein Element des Trostes – indem ich mir nämlich bewusst mache, dass sie mir angesichts des ungeheuerlichen Geschehens nicht nur zugehörig, sondern auch angemessen ist. Unnachahmlich hat das der große Kirchenlehrer, der heilige Thomas von Aquin im Rahmen seiner Reflexionen über Trauer zum Ausdruck gebracht: „… daraus selbst, dass jemand sich vorstellt, was seiner Selbstbestimmung gemäß ihm zukommt, entsteht ein gewisses Ergötzen.“
Wichtiger noch als die einzelnen, von vielfachen Umständen abhängenden individuellen Trostquellen ist mir die zur Überzeugung geronnene Erfahrung, dass jeder Trauer auch Trostquellen zugänglich sein können – vorausgesetzt, ich als Trauernder verweigere mich ihnen nicht. Für weitaus grausamer als Untröstlichkeit halte ich Trostlosigkeit. In mir erwuchs geradezu so etwas wie eine Sammelleidenschaft für Trostquellen und ich kann sie hier im Einzelnen nur exemplarisch benennen.
Da ist die Stärke von Jens in seinen letzten bewusst erlebten Tagen und Wochen. Da sind die Kraft- und Trostimpulse aus dem überlebenden Teil der Familie, meiner Frau und meiner Tochter. Da ist die erfahrene Wertschätzung von und die Mittrauer um Jens durch Dritte, nicht zuletzt aus seinem Freundeskreis. Da ist manch kleines Glück in dem großen Unglück, beispielsweise, dass Jens nach ganztägiger OP im Koma verblieb und dadurch nicht mehr selbst mit der tödlichen Diagnose konfrontiert wurde. Und da ist noch manches mehr.
Vor allem anderen ist da die Bestärkung in meinem christlichen Glauben durch die unfassbare Kraft, die Gott uns in dem schlimmen Geschehen schenkte. Wir hatten um solche Kraft gebetet. Der eigentliche Trost speist sich aus der Gewissheit, dass Jens eine Seele hat, die lebt und am ewigen Leben teilhaben kann.
In einer bayerischen Dorfkirche fand ein Freund den Spruch: „Die Liebe trauert, der Glaube tröstet, die Hoffnung versöhnt.“ Ihn druckten wir auf unsere Danksagungskarten. Alles drei bleibt mir gültig und hebt – wie eben auch Untröstlichkeit und Trost – einander nicht auf. Hochkomplex sind wir Menschen und hochkomplex ist unser Dasein.
Ulrich Brodersen