Ungefähr ein halbes Jahr nach dem Unfalltod unserer Tochter Miriam haben wir zum ersten Mal eine Trauergruppe bei den „Verwaisten Eltern“ in Köln besucht.
Miriam mußte ganz plötzlich sterben, ohne Krankheit, ohne Vorwarnung; sie ging an einem normalen Tag aus dem Haus und kam einfach nie wieder...
Sie wurde im April 2015 durch ein mit hoher Geschwindigkeit auf den Radweg schleuderndes Auto – zwei junge Männer hatten mit ihren PKW „ein spontanes Kräftemessen“ veranstaltet, so die spätere Wertung durch den Richter – vom Rad gerissen und so schwer verletzt, dass sie 3 Tage später in der Uni-Klinik Köln gestorben ist.
Sie war erst 4 Wochen vorher 19 Jahre alt geworden war, hatte im Jahr davor ein sehr gutes Abitur gemacht; hatte einen Freund... Als sie aus dem Haus ging, machte ich mir die üblichen Gedanken, die man als Mutter so hat: ‚Zieh einen Helm an, fahr auf dem Radweg, durch die Innenstadt ist gefährlich, willst Du nicht lieber anders fahren; meld’ Dich, wenn Du gut ange-kommen bist...’. Sie lächelte, „Ach, Mama...“, fuhr los, und als ich sie das nächste Mal sah, lag sie auf der Intensivstation im Sterben.
Das Chaos - nicht nur das der Gefühle - in das wir gestürzt wurden durch ihren Unfall und ihren Tod sowie die darauf folgende Gerichts-verhandlung, lässt sich in wenigen Worten nicht beschreiben.
Seitdem habe ich jeden Abend aufgeschrieben, was ihr und damit uns
zugestoßen ist und versucht zu erfassen, was es mit uns gemacht hat.
Und ich habe versucht zu erkennen, was uns durch dieses Chaos hilft:
Am meisten geholfen, mit der Situation einigermaßen umzugehen, haben
der Kontakt und der Austausch mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben wie wir; die auch ein Kind verloren haben in vergleichbarem Alter.
Diese Kontakte haben sich für uns unter anderem ergeben über die
Gruppe der „verwaisten Eltern“, die wir nach einigem Zögern besucht haben, nachdem wir zunächst die Illusion hatten, alleine mit allem fertigzuwerden. Ausserdem hatten wir die Befürchtung, dass uns die „Geschichten“ der anderen noch zusätzlich belasten würden, was aber nicht der Fall ist. Relativ schnell hatten wir gemerkt, dass es für uns auf keinen Fall möglich ist, dies alles alleine durchzustehen.
Das „normale“ Umfeld, Menschen, die einen solchen Verlust selber nicht
erlitten haben, sind schnell überfordert; was auch verständlich ist.
Man kann sich eine solche Situation nicht vorstellen, wenn man sie nicht
selbst erlebt hat, das ist einfach so und vorher hätte ich das auch nicht
gedacht. Aber an den Gruppenabenden erleben wir immer mal wieder das Gefühl, dass ohne allzu viel Worte verstanden wird; auch von den Gruppen-Leiterinnen, die jeweils moderieren und leiten.
Verstanden, warum wir immer wieder über Miriam reden möchten, warum
uns die Erinnerungen so wichtig sind, wie wir versuchen, unsere Tochter
nicht aus den Gedanken zu verlieren und nicht loszulassen.
Es wird verstanden, was das besondere am Verlust eines Kindes ist, warum er nicht vergleichbar ist mit anderen Todesfällen, die man erlebt.
Besonders dadurch, dass man ein Kind zeitlebens als einen Teil von sich
empfindet, dass man sich verantwortlich fühlte; und dass sich ganz viele
Eltern fragen, ob sie das Geschehene hätten verhindern können.
Wir konnten unsere eigenen Rituale der Erinnerungen schildern, lernten
die anderer kennen. Man kann zwar nicht alles für sich annehmen, aber man lernt unter anderem, dass grundsätzlich jede Form der Trauer richtig ist, auch wenn man bestimmte Dinge vielleicht selber anders handhabt.
Man kann möglicherweise Beispiele für den Umgang mit Trauer finden, die
einen wenigstens ein wenig ermutigen; so ging es uns.
Eine Trauergruppe kann – im besten Fall – wichtige Orientierung geben in
dem Gefühlschaos, das einen beherrscht; allein schon durch Zuhören, durch die Gewissheit, dass man nicht der einzige Mensch auf der Welt ist, der um sein Kind trauert. Dadurch, dass man einen Raum hat für seine Gefühle.
Die Trauer um Miriam wird uns den Rest unserer Zeit begleiten und das ist gut so, denn unsere Trauer zeigt unsere Liebe zu ihr.
Aber wir wollen versuchen, einen für uns erträglichen Umgang mit der
Trauer zu finden, so dass sie uns nicht vollkommen erdrückt.
Für uns sind der Austausch und das Gespräch wichtige Schritte in diese
Richtung.
Marita Scheidel
Köln, im November 2016